Aus der Vergangenheit lernen
Vortrag am 22.8.2012 in Neviges im Gemeindehaus Siepen
im Rahmen der Vortragsreihe „Ein Kessel Buntes“
Auf Einladung der Gemeindepfarrerin Stute hielten Gerd Lensing und ich Vorträge über die Nevigeser Kirchengeschichte und über unsere Arbeit im Kirchenarchiv Velbert, zu dem seit Juni 2007 auch das Archiv der Ev.-Reformierten Gemeinde Neviges gehört.
Ich komme ja nicht aus dem Bergischen, aber meine Frau. Und deren Großeltern väterlicherseits kamen aus Neviges. Die Familie wohnte draußen am Zwingenberg im „Heisgesfeld“, dem letzten Hof am Pfad zum Judenfriedhof.
Als die Unterlagen des Nevigeser Kichenarchivs nach Velbert kamen, digitalisierte ich die Nevigeser Kirchenbücher, das heißt, ich tippte all die Namen und Daten der Getauften, der Brautleute und der Verstorbenen in Exceltabellen und füllte bald fünf Bücher. Bei dieser Arbeit kamen mir die Nevigeser Familien überraschenderweise sehr nahe und ich bekam Einblicke in die Geschichte und die Geschicke der Einwohner dieses Ortes. Ja, ich hatte das Gefühl, dass da längst Vergangenes zu neuem Leben erwachte. Und so möchte ich Sie, meine Zuhörer, mitnehmen in eine andere Welt, die eigentlich noch gar nicht so lange zurückliegt.
Um die Sache spannend zu machen, habe ich mir Themen herausgesucht, die mehr oder weniger Spektakuläres zum Inhalt haben. Ich beginne mit den Sterbebüchern, in denen in der Regel die Todesursachen aufgeschrieben stehen. Ich gliedere sie in drei Teile.
Unfälle
Da hat 1634 Gott der Allmächtige den alten Henrich aufm Leupersberg nach seinem väterlichen Willen plötzlich von dieser Welt abgefordert. Als Grund für seinen Tod wird angegeben, dass er von der Treppe, die zu seiner Leibzucht (=Altenteil) führte, todt gefallen ist.
Im Jahre 1637 starb ein Mann durch Bisse eines tollen Hundes. Und ein Bauer fiel beim Bierbrauen vom 2. Söller in kochendes Wasser und starb abends an seinen Verbrühungen.
1668 ertrank ein junger Mann bei Hochwasser im Deilbach und wurde erst drei Tage später gefunden.
1743 finde ich den Eintrag. Ein Knabe mit 17 Jahren am Teimberg unter fallendem Eichenbaum tot geblieben.
Morde
Die Zahl der Ermordeten hält sich in Grenzen, aber jeder Fall ist schlimm genug.
1668 wurde Peter im Löe erbärmlich ermordet im Halfmanns Busch zu Eldicum, der Teckbusch genannt.
1743 wurde am 17. April ein 64-Jähriger bei Frickenhaus tot geschlagen.
1785 widerfuhr dem Franz Theodor König Entsetzliches. Er wurde unter den Lübches-Eichen durch Verfolgung eines Einheimischen mit einem Hirschfänger so übel am Kopf zugerichtet, dass er daran gestorben ist.
30-jähriger Krieg
Dieser schreckliche Krieg hinerließ auch in Neviges seine Spuren. Hier wurden fremde Soldaten begraben. Aber auch Nevigeser Zivilisten kamen zu Tode
erschossen von den Hessischen (1636)
erschossen von den Kaiserlichen (1637)
erschossen von den Stabischen Reitern (1637)
erschossen von den „Picolomeschen Kaiserlichen Völkern“
1643 wurden zwei namenlose hessische Soldaten beerdigt, die bei „Cohlendahl“ ums Leben kamen.
Und nach dem Westfälischen Frieden von 1648 wurde 1651 ein Wülfrather von Kriegsleuten in Neviges erschossen und in Neviges begraben. – Marodierende Truppenverbände trieben also auch in Neviges ihr Unwesen.
Das Geschehen rund um die Geburt
ist ein weiteres Thema, auf das ich bei meinen Recherchen stieß. Die Mütter starben reihenweise im Kindsbett. Im Kirchenbuch steht da: Gestorben in Kindsnöthe. Mangelnde Hygiene und die unterentwickelten Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung sind hier als Ursache zu nennen. Ich bin mir sicher, dass die Hebammen jener Jahre immer ihr Bestes gegeben haben. Ja, sie waren oft die intimsten Vertrauten der Mütter.
Die Kindersterblichkeit war sehr hoch. Es ist erschreckend, in meinen Listen zu lesen, wie viele Kinder in den ersten Monaten ihres Lebens starben. Immer wieder lese ich die Formulierungen:
• ein Kind stracks, nachdem es auf die Weltgekommen, getauft
• ein Kind etliche Stunden darauf, als es getauft, gestorben
Ja, die Taufe war wichtig, damit das Neugeborene nicht sofort in die Hölle kam.
Viele Kinder erreichten das dritte Lebensjahr nicht. Als Todesursache steht oft Auszehrung angegeben. Von einem Kinderarzt weiß ich, dass sich unter diesem Begriff zwar schon mal die Schwindsucht verbirgt, meistens war es schlicht und einfach Unterernährung, die die Kinder sterben ließ. Der Grund ist darin zu suchen, dass die Mütter nach vielen aufeinanderfolgenden Geburten geschwächt waren und den Kindern nicht genug Milch boten. Wir wollen es nicht verschweigen: die Kinder sind, so traurig das ist, verhungert. Kuhmilch ist bekanntlich ein schlechter Ersatz für Muttermilch und Milchersatzstoffe gab es noch nicht.
Todesursache: Seuchen
Das Entstehen dichtbesiedelter Städte und die Zunahme der Bevölkerung auch in den ländlichen Bezirken schuf, wie die Wissenschaft heute weiß, die Basis für die Ausbreitung von Bakterien, Bazillen und Viren. Gestank schreckte den Menschen schon immer. Also raus mit dem Dreck in die Gosse und dann auf den Regen warten. Das konnte bei dichter Besiedlung nicht gutgehen.
Auch in den Nevigeser Sterbebüchern finden sich die entsprechenden Krankheiten
- Diphtherie
- Blattern (Pocken)
- Thyphus
- Cholera
- Ruhr
Sie grassierte 1794 schrecklich in Neviges. Jeden 2. Tag fand ich den Eintrag einer Beerdigung!
Ein wenig mehr auslassen möchte ich mich zu den folgenden Themen:
Die Pest in Neviges
Die Pest war die Geißel des ausklingenden Mittelalters in Europa und Nordafrika. Sie geht von Ratten aus, wobei die Flöhe dieser Tiere die Überträger der Krankheit sind. Wenn nun alle Ratten gestorben waren, suchten sich die Flöhe einen neuen Blutspender und das war der Mensch.
Die Nevigeser waren in den Jahren von 1635 bis 1637 Opfer der Pest. Die nebenstehende Tabelle gibt Auskunft über den typischen Verlauf dieser Krankheit.
Im Dezember 1635, Februar und Mai 1636 gab es je einen Toten. Im Juli waren es 20 und so weiter. Im Dezember 1636 war es offensichtlich sehr kalt in Neviges. Flöhe sind da empfindlich. Im Januar stieg die Zahl der Toten wieder und im Juli 1637 war Schluss mit der Krankheit. 108 Tote durch die Pest zählte ich im Sterberegister der Nevigeser Reformierten.
Die Schwindsucht
Interessant ist noch ein Blick auf jene Krankheit, die vermehrt mit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch in Neviges viele Einwohner sterben ließ. Die Tuberkulose, wie sie die Ärzte nennen, war hier die Folge der industriellen Revolution, wie wir die Jahre nennen, in denen die Webereien und die Metallverarbeitung mehr und mehr Arbeiter anzog. Sie kamen von weit her, da sie hier „Lohn und Brot“ fanden. Aber die Unterkünfte waren knapp und die Leute mussten froh sein, wenn sie überhaupt ein Dach über dem Kopf hatten. Also hausten sie in Schuppen und Verschlägen, ohne Heizung und Sonnenlicht. Und ans Tageslicht kamen sie sowieso nur selten bei einem 16-Stunden-Tag. Sie verdienten nicht eben schlecht, schickten aber den Großteil des Lohnes an die Lieben in der Heimat und sparten am Essen. Bei feuchtkalter Unterkunft und schlechter Ernährung bei gleichzeitigem Vitaminmangel lauert die Gefahr einer verschleppten Erkältung und damit die Infektion mit den bösen Bakterien.
Vergangenes erwacht zu neuem Leben
So habe ich diesen Vortrag genannt und von vielen bösen Dingen geschrieben, die die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten erlitten habe. Ich gewann den Blick in diese Zeit durch das Studium der Kirchenbücher aus Neviges und bin dankbar dafür.
Manches hat sich seitdem geändert, aber Vieles von dem, was die Vorfahren erlitten haben, beschäftigt uns auch heute noch. Menschenverachtende und von ihrem Glauben fehlgeleitete Horden streiften einstmals durch unser Land. Heute bedrohen uns selbsternannte Gotteskrieger, zwar von fern, aber unsere Welt ist klein geworden.
Unfälle drohen uns heute wie einst. Schauen wir nur auf unsere mit Fahrzeugen vollgestopften Straßen.
Viele Morde werden durch geschickte Kriminalisten aufgeklärt, aber immer wieder fallen unsere Mitmenschen einer Heimtücke zum Opfer.
Viele Krankheiten haben wir nicht im Griff. Denken Sie nur an die vielen Krebskranken, die wir nicht heilen können. Und auch Arbeit kann immer noch krank machen. Schauen wir darum nicht böse auf die vielbescholtenen Fabrikbesitzer der vergangenen Jahre. Vielleicht haben sie es auch nur gut gemeint, als sie armen Menschen „Lohn und Brot“ gegeben haben.
Ich denke, dass wir bei einem Blick in die Vergangenheit viel lernen können, sowohl von den Leiden als auch den Fehlern unserer Vorfahren. Wir sollten nicht über sie urteilen, sondern aus ihrem Leben unsere Lehren ziehen und das Beste daraus machen für unser Leben.
Dr. Ingomar Haske